Wir alle nehmen in unterschiedlichen Umfeldern unterschiedliche Rollen ein. Wir geben uns, wie wir denken, dass man uns wahrnehmen sollten, wie es in dem Arbeitsumfeld, dem Anlass oder dem sozialen Umfeld angemessen erscheint. Das hat eine ganze Menge mit Erwartungshaltungen zu tun, die sich über Jahre und Jahrzehnte in unser Gesellschaft eingeschlichen haben. Bestimmte Dinge werden erwartet und wir verhalten uns dementsprechend, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, wer die jeweilige Verhaltensregel überhaupt aufgestellt hat. Wie sinnvoll eine jeweilige Regel ist, wird meistens gar nicht hinterfragt. Und so dreht sich das altbekannte Hamsterrad fröhlich weiter.
Vor ein paar Jahren kam ich mit einem Kollegen ins Gespräch. Schick angezogen trafen wir uns auf der jährlichen Weihnachtsfeier und sprachen zunächst über dies und das. Dann erzählte er mir von dem Segeltrip, von dem er träumte, und von dem Boot, das er sich diesen Sommer gekauft hatte. Und ich staunte nicht schlecht. Zwischen Smalltalk und vornehmen Gehabe lernte ich eine Seite an meinem Kollegen kennen, die ich nicht kannte, nie erwartet und vielleicht nie kennengelernt hätte.
Und so war dieser Abend in gewisser Weise ein Schlüsselmoment. Seither stelle ich häufiger Fragen, ich höre zu – ich suche nach den Geschichten unter den Anzügen, unter dem Make-Up. Denn manchmal, so werden wir alle feststellen, werden wir uns gegenseitig aufrichtig überraschen.
